Zu den Arbeiten
bis 2012
Im Gegensatz zu den früheren Arbeiten, den Spaltformen, Brettern, Naturresten und Köpfen, bei denen der
Maserungsstrom im Holz ein wichtiges Gestaltungsmerkmal war, kommen die Arbeiten nach 2011 fast ohne die
naturvorgegebenen Materialstrukturen aus. Farb- und Grafitspuren überlagern die Form des Trägerma-terials. In gewisser
Weise verschmelzen nun die grafischen, zweidimensionalen Arbeiten, die Zeichnungen, mit den skulpturalen Werken.
Thematisch bleibt der Kopf bzw. das Gesicht das zentrale Anliegen, oft als Einzelkopf, aber auch als Paar oder in der
Gruppe. Die früher häufigeren großflächigen, kleinen Bohrungen in den meist scheibenartigen Köpfen werden durch
größere Bohrungen bei gleichzeitig voluminöserer Ge-samtform mit noch höherer Transparenz ersetzt. Es sind Arbeiten
von größerem Volumen bei geringerer Masse. Größere Bohrungen ermöglichen den Blick in das Innere der Arbeiten. Das
Licht strahlt durch die Arbeiten hindurch und hinein. Je nach Standpunkt des Betrachters entstehen unterschiedliche Ein-
und Durchsichten. Beim Vorbeigehen verändert sich die Wirkung der Skulpturen von einer fast kompletten Trans-parenz
bis zur fast völligen Geschlossenheit oder umgekehrt. Bei den Hohlformen unterstützt das in Weiß oder Schwarz
gehaltene Innere bei weißer Innenseite eher die Leichtigkeit, bei schwarzer eher die Transparenz. Teilweise entstehen
durch zusätzliche Sägeschnitte an der Oberfläche Richtungsstrukturen, die inhaltlich an Haare erinnern und die
Oberfläche zusätzlich bereichern. Dadurch erscheinen die Köpfe dynamischer und ausdrucksstärker. Eine ähnliche
Wirkung wird durch die Verwendung von linearen, dyna-mischen Grafitspuren und Grafitstiftlinien erzeugt. Die Köpfe sind
sehr stark vereinfacht, aber auch soweit formgeklärt, dass sie eine Idealisierung erfahren. Es sind Versuche,
Formschönheit mit Ausdrucksstärke zu verbinden, ein klassisches Anliegen also. Schon seit den 90er Jahren orientiert
sich die Formfindung bei den Köpfen und Gesichtern am Profil. Trotz Stilisierung und Idealisierung ist das Profil in seiner
Wirkung bei weitem nicht so hieratisch wie die direkte Begegnung en face. Das hängt sicher mit der fehlenden Symmetrie
zusammen. Die Köpfe erinnern an die strengen Profilportraits der Frührenaissance, wo die Möglichkeit der beliebigen
Drehung des Kopfes im Raum durch perspektivische Mittel noch nicht erkannt wurde. Ver-schiedene Werkreihen mit dem
Titel „Mädchen nach Pisanello“ oder „Mädchen mit gebundenem Haar“ verweisen darauf. Die Oberfläche wird häufig
mehrfach übermalt und teilweise wieder abgeschliffen, was den Eindruck einer scheinbaren Alterung hervorruft. Durch die
Sägeschnitte und die Bemalung verbleiben nach dem Abschleifen Farbreste in den Vertiefungen, die ein interessantes
Farbspiel mit dem Holz eingehen. Entfernt erinnert man sich an die mit Kreidegrund und Farbe gefassten Holzskulpturen
des Mittelalters, die eben auch an manchen Stellen das Trägermaterial Holz freigeben.
Wie in den früheren Arbeiten auch, werden Augen, Locken, oder neu, wie in einigen Brettarbeiten zu sehen ist, ganze
Gesichtssilhouetten integriert. Die Formen sind in Bezug auf ihre Abbildhaftigkeit bis an die Gren-zen des Erkennbaren
auf das Minimalistischste reduziert, sind aber in ihrer Formenneuschöpfung höchst komplex und technisch gar nicht so
einfach herstellbar. Aus den Abbildern sind eher Zeichen geworden, die immer wieder leicht modifiziert verwendet
werden. Wer in der Lage ist diese Formzeichen zu erkennen, ist auch in der Lage die Arbeiten zu lesen. In der Arbeit
„Adoranten I“, die noch etwas komplizierter zu lesen ist, werden verschiedene Darstellungsweisen kombiniert. Drei
lineare, minimalistische Gesichtszüge mit eingesetzten Augen und im Profil, die Adoranten, werden mit einem
lochgerasterten Dreiviertel-Portrait in Hell-Dunkel-Trennung in einem Rechteckfeld kombiniert. Eine Schwarz-Weiß-
Trennung lässt vielleicht ein Davor, für die Dreiergruppe, und ein Dahinter, für das über allem schwebende Portrait
erkennen.
Immer wieder werden die transparenten Lochfelder durch orthogonale oder gebogene Koordinaten in Lochreihen ergänzt,
die als Haltepunkte, Kreuzungspunkte oder Zentren zu verstehen sind. Es handelt sich um Ordnungssysteme, vielleicht
ein Wertesystem, an dem sich Personen, Gruppen oder sogar die Gesell-schaft orientieren können. In den Köpfen sind
es sicher individuelle Ordnungssysteme, bei mehreren Köpfen oft auch kontroverse, wenn sich die Koordinatensysteme
gegenseitig behindern. In den Brettern werden die Gesichtssilhouetten noch stärker auf die Systeme bezogen. Ganz
deutlich zeigt sich das in der Arbeit „Partei-gänger“, in der sich Sägeschnittgesichter um eine gebogene Koordinate
gruppieren, mit Lochfeldern, die auf Transparenz verweisen. Gebogene Koordinaten erzeugen nicht gerade eine
beruhigende Wirkung, sondern verdeutlichen vielleicht das Schwanken und die Suche nach einem festen Standpunkt.
Neben der Orientierung der Köpfe an der Frührenaissance werden auch andere Rückbesinnungen auf die
Kunstgeschichte gemacht. So erinnert die Arbeit „Kopf mit Hommage I (Uecker) an die Nagelbilder des Zero-Künstler
Günther Uecker, der in den 60er Jahren mit Piene und Mack dem Licht in der Kunst eine neue Bedeutung zukommen
ließ.
Im Grenzbereich der Mimesis bis 2008
In den Arbeiten von Alfons Wiest, der sich seit ca. 15 Jahren auf die Gestaltung von scheibenförmigen, relativ flachen
Kopfformen konzentriert, wird das intensive Ausloten im Grenzbereich zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit
sichtbar. Seine Köpfe sind keine Abbilder nach der Natur, geschweige denn Abbilder von bestimmten Personen, sondern
abstrahierte Kopfformen, die trotz ihrer klassischen Schlichtheit auch ausdrucksgeladen sind. So zeigen die Arbeiten mit
dem Titel „Nach dem Kampf I-VI“ Eindrücke eines Innehaltens, einer Rückbesinnung auf das Vollbrachte, eine
kontemplative Gestimmtheit und Ruhe. Der beinahe aggressive, schneideförmige Kamm im oberen Bereich dieser Köpfe
erinnert aber noch an die Anstrengung und den Kampfeswillen. Die Gruppe der „Mänaden“ dagegen, zeigt, verursacht
durch den mit Sägeschnitten unterteilten hinteren Kopfbereich oder Haarbereich, eine kräftige Dynamik, eine nervöse
Lebendigkeit. Mänaden verweisen durch den Titel symbolhaft auf ihre stürmischen antiken Vorbilder im Umfeld des
Dionysos.
Für die Entstehung eines stimmigen Ausdrucks ist die Klärung der Umrisslinie um die Form besonders wichtig. Sie
entscheidet besonders bei diesen eher auf eine Hauptansicht angelegten scheibenartigen Formen noch stärker als bei
allseitigen plastischen Formen über die Ausdrucksrichtung. Minimale Änderungen lenken von der klassisch komponierten,
ausgewogenen Form ab. Durch die Wiederholungen ähnlicher Köpfe, die in dieser Ausstellung oft nebeneinander
präsentiert werden, wird dies deutlich. Unverkennbar für die Arbeit von Alfons Weist sind die zunächst ausgesägten und
anschließend wieder eingefügten plastischen Kleinteile, wie Augenformen und Lockenformen. Eingeschlossene
„Verplombungen“ für Augen und Locken u.a. sind Ankerpunkte für die Werkbetrachtung, bei denen der Betrachter
innehält, von denen aus dann das Werk weiter erkundet werden kann.
Ein weiteres, besonders wichtiges Merkmal dieser Arbeiten ist die angestrebte Transparenz des Materials Holz. Buche-,
Eiche-, Apfelbaum-, Rüster- und Mooreichebretter werden zum Teil flächenhaft aufgebohrt. Loch- und Sägetransparenzen
lassen das Licht durch die Materie dringen. Ein gleichzeitiges Betrachten von skulpturalem Vordergrund und
landschaftlichem Hintergrund wird dadurch möglich. Das Material Holz beginnt sich aufzulösen. Durch die Transparenzen
ent-stehen Zonen der Leichtigkeit, des Geistigen, für eine Kopfform ja nicht abwegig, im Gegensatz zur Schwere, zur
Geschlossenheit der Materie. Vielleicht ist es aber auch nur der Versuch, den die Bildhauer seit der Antike schon erprobt
haben, Immaterielles mit den Möglichkeiten der Plastik zu beschreiben. Durch das Vorbeigehen des Betrachters an den
Skulpturen können unterschiedliche Intensitäten von Transparenz erfahren werden. Bei direktem Davorstehen wird die
stärkste Transparenz erreicht. Bei einer eher seitlichen Betrachtung wird die plastische Form verdeutlicht. Ein
wesentlicher Aspekt kommt dabei der Beleuchtung und den Witterungsverhältnissen zu. Die Köpfe erscheinen im
Extremfall silhouettenhaft und hochtransparent oder geschlossen und plastisch durchmodelliert. Durch das Fehlen einer
systematisch-geometrischen Lochabfolge wird der Zufall zu einem wichtigen Element. Beim Entstehungsprozess der
Lochfläche werden unterschiedliche Musterassoziationen erzeugt. Je nach Betrachtung, auch Betrachtungsabstand, ent-
stehen irisierende Effekte, wie z.B. Kreis- und Spiralmuster. Der Bohrvorgang von mehreren Tausend Löchern erfordert
einerseits Konzentration, ist auf der anderen Seite aber auch simpel, was ähnlich einer Gebetsmühle zu einem psychisch-
automatischen Handeln verführt. Durch das Nachlassen der geistigen Präsenz, hart am Gestaltungsprozess, kann der
Gestaltungsprozess meditativen Charakter annehmen.
Das Material Holz ist meistens fein verschliffen, zeigt dadurch sein „wahres Gesicht“, zeigt den Maserungsstrom,
dokumentiert die Wachstumsvorgänge im Innern des Holzes. Neben den Lochfeldern stören auch Lochreihen mit relativ
großen Löchern den Maserungsstrom. Häufig in Koordinatenform angelegt, sind sie an logische Denkstrukturen
angepasst, die die Naturform überlagern. Koordinaten erinnern an Ausrichtungs- und Schnittpunkte. In die Kopfform
eingelassen erinnern sie an Wertesysteme oder an das Denken in erlernten und vorgedachten Bahnen.
Der Schönheit und dem Göttlichen auf der Spur Juni 2015
Rutesheim/Löchgau Bis zum 24. Juli 2015 sind in der Christian-Wagner-Bücherei schöne Hohlköpfe, Figurengruppen
und Grafitarbeiten des Löchgauer Künstlers und Lehrers Alfons Wiest zu sehen. Am Sonntag um 11.15 ist die Vernissage.
Von Barbara Bross-Winkler
In Leonberg hat Friedrich Hölderlin mit seiner Jugendliebe Louise Nast 1788 Verlobungsringe getauscht und glückliche
Tage verlebt. Von morgen an werden er und Louise in der Rutesheimer Christian-Wagner-Bücherei weilen. Auch Hölderlins
andere Liebschaften, etwa Elise Lebret, Tochter des Tübinger Universi-täts-Kanzlers, oder Wilhelmine Kirms, die
womöglich ein uneheliches Kind von Hölderlin zur Welt brachte, hat der Löchgauer Künstler Alfons Wiest in seinen
Holzskulpturen wieder lebendig werden lassen.
Angesichts der klassisch schönen weiblichen „Holzköpfe" von Alfons Wiest mit den am Hinterkopf aufge-blähten, vielfach
durchlöcherten Hochfrisuren, die von teils bunten „Bändern" am Kopf festgehalten werden, meint man fast eine auf der
Laute gespielte Pavane von John Dowland zu hören. „Was ist Schönheit?", das ist denn auch eine der großen Fragen, die
der Löchgauer sich stellt.
Über Skulpturen aus gekrümmten, naturnahen Holzstücken, in denen dem einstigen „Holzfetischisten" noch die natürliche
Strahlkraft und der Verlauf der Holzmaserung wichtig war, ist der Bildhauer heute vor allem bei scheibenartigen
Kopfformen gelandet. Sie fertigt er in einem langwierigen, technisch kompli-zierten und körperlich anstrengenden Prozess.
So entstehen aus Buchenbrettern durch Aufeinander-schichten und zahllose Bohrungen scheibenartige Profilköpfe, die vor
allem dank ihrer hohen Frisuren an Profilporträts aus der Renaissance erinnern.
Rund 50 Holzarbeiten, aber auch einige Grafitbilder wird Wiest in Rutesheim zeigen und man darf gespannt sein, wie die
dank der Lochformen transparenten Köpfe das Licht und den Hintergrund der Bücherei aufnehmen. Beim Vorüber- oder
Herumgehen verändern sich die Skulpturen. Sie werden je nach Standpunkt fast vollständig transparent und wirken im
nächsten Moment wieder so verschlossen wie ein fester Körper. So ergeben sich ständig neue Ein- und Durchsichten auf
die auch innen teilweise farbig gestalteten Köpfe.
Der Kopf ist für Wiest der zentrale Teil des Menschen und er versucht, im Materiellen auch das Imma-terielle zu erfassen,
die Kluft zwischen sichtbarer Realität und unsichtbarem Denken zu überbrücken. „Ich frage mich, wie ist das Geistige zu
fassen, das Göttliche, das auch im Menschen steckt", sagt er. In einigen Werken sind auch löchrige Koordinaten zu sehen
- für Wiest eine Art Wertesystem des Menschen. Aus ihrer Anordnung lässt sich in seinen Werken viel ablesen. Die in
unterschiedliche Richtungen verlaufenden Koordinaten einer Familie am Tisch etwa lassen vermuten, dass hier wenig
Harmonie herrscht.
In Rutesheim wird neben Hölderlin und seinen Damen auch Amy Winehouse zu sehen sein - und wer geduldig und genau
schaut, vielleicht bedächtig vorbeigeht, wird in den „Adoranten I" keine Insel, sondern Jim Morrison entdecken.
Doch zumeist sind Wiests Köpfe, seine Paare und Gruppen, alterslos und anonymisiert. Sie haben Titel wie „Mädchen
nach Pisanello", „Großer Mädchenkopf mit Transparenz" oder „Nach dem Kampf". Auch die in den Köpfen
eingeschlossenen „Verplombungen", Augen und Locken verwandeln den aufs Wesentliche reduzierten
Kopf nicht in ein
erkennbares Gesicht. Zur Individualität indes trägt bei, dass Wiest das Holz neuerdings oft mehrfach übermalt, teilweise
wieder abschleift, mit Grafitspuren überzieht, sodass die Köpfe aussehen, als seien sie aus Marmor, Ton oder gar Metall.
Der Mensch ist bei ihm auf einen Kern verdichtet, der dennoch Raum lässt für eine transparente, schwerelose Schönheit,
eine ikonenhafte Präsenz, der man sich schwer entziehen kann.
Alfons Wiest – Köpfe, Paare, Transparenzen
Einführung von Nicole Raichle im Kreishaus Ludwigsburg, 2. Juni 2022
Liebe Kunstfreunde,
wenn Sie kunsthistorisch interessiert sind, können Sie heute aus dem Vollen schöpfen. Zitate, Anleihen und direkte Verweise aus
vielen Epochen laden uns zum Mitdenken und Entdecken ein. Aber keine Angst: Wenn Sie mit der Kunstgeschichte nicht so
bewandert sind, können Sie diese Werke einfach nur durch aufmerksames Betrachten lesen und verstehen. Wir erleben heute in
jedem Fall eine Explosion an Ästhetik, Können und Inhalten. (…)
Das Werk von Alfons Wiest ist noch viel breiter gefächert, als das, was wir heute sehen. Ich möchte Ihnen in meiner
Einführungsrede die aktuellen Arbeiten vorstellen und Ihnen auch Anregungen geben, wie Sie sich ihnen nähern können. Dazu
werde ich kurz - wenn auch nur vor Ihrem geistigen Auge - auf die Anfänge der plastischen Arbeiten von Alfons Wiest
zurückblicken. Das ist wichtig, denn das Werk von Wiest hat eine kontinuierliche Entwicklung hinter sich, die ich schon als
Transformation bezeichnen möchte. Das ist nicht nur eine Weiterentwicklung, sondern ein konzeptionelles Weiterdenken von
Ideen und auch das Weiterentwickeln des Werkstoffes Holz in unglaubliche Dimensionen.
Zu Beginn seines künstlerischen Schaffens findet man fast schon archaisch anmutende Arbeiten. Vor allem die schwarze
Mooreiche hat es Wiest angetan. Im Mittelpunkt steht der Charakter des Holzstückes. Und hierbei handelt es sich meist um
Fundstücke. Gefunden in der Natur oder in Abbruchhäusern, erzählen diese Balken ihre ganz eigenen Geschichten und
bestechen durch ihre individuelle Holzoptik, die Wiest künstlerisch herausarbeitet und verstärkt. Hier arbeitet er nur in Ansätzen
figürlich, und wenn, dann geben die alten Balken die Form der Figuren vor. Diese stelenartigen Arbeiten haben etwas rituell
Wirkendes und wenn sie Figuren darstellen, dann geben die sich erst auf den zweiten Blick preis. Hier scheint es so, als ob es
dem Künstler vor allem um das Leben und das Wesen der Hölzer geht. Maserungen werden nachgearbeitet, Astlöcher entfernt
und aus dem natürlichen Holz wird ein künstlerisches Holz.
In den 1980ern bezeichnet Wiest seine Arbeiten als eine Annäherung an die menschliche Form, wie sie kunsthistorisch der
vorarchaisn Kunst der Kykladen nahe kommt. Hier sind biomorphe, geschwungene und vorallem disproportionale Formen
verstärkt zu finden. Da lässt er Materialien auch mal schrumpfen, wie welke Haut und widmet sich dem Thema Reduktion durch
Schrumpfung. Er beginnt damit, das Holz quasi zu modellieren. Hier beginnt sein Weg, aus dem Holz ein formbares Material zu
machen, das in den hier gezeigten Arbeiten seinen bisherigen Höhepunkt darstellt. Und dann kommt etwas hinzu, was seine
Arbeiten einmalig und unverwechselbar macht: Die Transparenz. Löcher bestimmen von nun an nun die Arbeiten. Die
Perforationen sind ein unverkennbares Markenzeichen der Arbeiten von Wiest. Er hat die unzähligen Löcher, Raster und
Koordinatenreihen von Hand eingearbeitet. Zum Teil fehlen dadurch bis zu 50% des Materials. Für Wiest selbst ist dieser Akt der
Bohrung ein kontemplativer Akt, der in seiner Monotonie schon fast etwas Meditatives hat.
In dieser Phase habe ich seine Arbeiten kennengelernt, als er flache Holzscheiben mit unzähligen Löchern gestaltet und seinen
Köpfen eine unheimliche Transparenz gab. Ästhetik pur und wahnwitzige Genauigkeit beim Arbeiten. Große Löcher, kleine Löcher,
Aussägungen, die zum Teil wieder geschossen wurden. Diese Schließungen nennt er Plomben. Und diese spielen eine große
Rolle. Vor allem in der Funktion als Augen, die er gezielt durch Plomben ersetzt. Die Köpfe sind in dieser damaligen Werkphase
so gut wie nie koloriert und der Künstler spielt mit der ästhetischen Wirkung des Holzes, seinem Glanz und seiner Farbe.
Hier geht es, wie auch bei den ganz aktuellen Arbeiten, um Transparenz und Material, um Volumen und um Material, das gar nicht
da ist. Und es geht, ganz klar, um Köpfe.Archaische, klassische aber auch stark abstrahierte Köpfe. Diese Köpfe kann man bereits
lesen. Wir brauchen nicht zu spekulieren und dennoch bleibt genug Raum für unsere eigenen Phantasien.
Wir beginnen beim Betrachten immer mit den Augen (das sind die tropfenförmigen Plomben), suchen dann die Linien über Nase,
Mund und Kinn. Am Hinterkopf erkennt man das Geschlecht oder die Funktion der Figur. Männer haben flache, eckige Formen,
Frauen geschwungene mit entsprechenden Frisuren. Beim Werk „Nach dem Kampf“ (Werkstück 273) ist man durch die beilartige,
kantige Form an eine martialische Kriegerfigur erinnert. Allerdings in einer entspannten Haltung, mit gesenktem Kopf, eben nach
dem Kampf.
Damals dachte ich, diese vollkommenen Arbeiten können nicht weiter entwickelt werden. Mehr Transparenz geht nicht. Das Holz
als Werkstoff gelangt hier an seine Grenzen. Mehr Formensprache und mehr Inhalt in einer Kopfdarstellung kann nicht erzielt
werden.
Warum erzähle ich Ihnen das alles? Ich habe mich getäuscht. Denn die Kunst, die wir hier sehen, ist eine logische, konsequente
und konzeptionelle Weiterentwicklung eines Werdegangs. Das ist mir wichtig, denn es steckt in den Arbeiten von Alfons Wiest
einfach zu viel Wissen, künstlerisches Können und nicht zuletzt technischer Aufwand um nicht voll wertgeschätzt zu werden.
Wissen Sie, wir sind heute in der schönen Lage, einen Künstler zu erleben, dessen Arbeiten einzigartig sind. Oder haben Sie
schon einmal Vergleichbares gesehen?
Nun sind wir also bei den neuesten Arbeiten angelangt, die hier überwiegend ausgestellt sind. Begeben wir uns also weiter in die
Welt der Köpfe, der Paare, der Beziehungen und der Transparenz.
Zuerst möchte ich Ihnen an die Hand geben, wie Sie die Arbeiten lesen können: Schauen Sie die Arbeiten aus verschiedenen
Perspektiven an. Erst dann zeigt sich die volle Schönheit. Das Spiel mit Licht und Schatten, die Veränderung in der wundervollen,
hoch aufwändigen Bemalung – auch in den Löchern – und die Transparenz zaubern eine hohe Ästhetik.
Und achten Sie auf die Formensprache. (…) Es ist Wiest tatsächlich gelungen die Volumina seiner Arbeiten immer noch weiter zu
erhöhen. Er bläht die Strukturen auf, macht sie zu Hohlkörpern und enthebt das Material Holz seiner statischen Bestimmung.
Als ich diese Arbeiten zum ersten Mal gesehen habe, kam mir als Werkstoff eher Keramik, oder Terrakotta als Holz in den Sinn.
Wie kann man Holz so leicht, so luftig, so modellierbar behandeln? Der rein technische Aufwand hierfür ist unfassbar hoch. Wiest
baut seine Skulpturen schichtweise auf. Jede Schicht besteht zunächst aus einer Ringform, die exakt geschnitten, gesägt und
gearbeitet wird und dann wird eine auf die nächsten gesetzt.
Aber das ist noch nicht alles an Raum und Transparenz. Die tausende Löcher sind alle von Hand gebohrt. Damit das Licht optimal
fallen kann und die erzielte Wirkung eintritt, ist ein absolut exaktes und akribisches Arbeiten nötig. Dieses anstrengende und doch
kontemplative Arbeiten ist für Wiest ein wichtiger Teil des künstlerischen Schaffens.
Und die neuen Arbeiten sind auch noch farbig gefasst. Diese Bemalung aufzutragen, ist ebenfalls eine langwierige und
anstrengende Prozedur. Schauen Sie sich die Bohrungen an, auch sie sind von innen bemalt, egal wie klein sie sind. Und bei
allem technischen, hoch aufwändigen Arbeitsverfahren entstehen reine, grazile, transparente Kunstwerke von höchster Ästhetik
und mit einer hohen Aussagkraft und künstlerischem Wert.
Wiest arbeitet immer in Werkgruppen.Das sind Gruppen von Arbeiten, die zeitlich gemeinsam entstehen, aber auch thematisch
zueinander gehören. Diese können Sie als solche gut erkennen und auch die Titel weisen darauf hin. Das gibt es die großen,
flachen, Scheibenformen, die an der Wand hängen. Die Paare die darauf zu sehen sind, haben „große Ideen“, so besagt es der
Titel. Hier ließ sich der Künstler u.a. inspirieren von den Darstellungen der Giebelfiguren aus dem Tempel von Ägina. In der
Münchner Glyptothek sind diese Kämpfe um Troja zu sehen und die Schilder der Krieger standen u.a. Pate für diese runden
Darstellungen aus denen die Köpfen und Figuren erwachsen.
Ursprünglich waren diese griechischen Darstellung übrigens auch farbig gefasst, was Wiest hier wieder aufgreift. Das Paar sieht
sich an und scheint in ein Gespräch vertieft zu sein. Worüber sie sprechen wissen wir nicht, aber die Idee, die sie haben wird in
Form der Scheibe sichtbar. Sie ist schon da, aber noch nicht benennbar. Eine Gedankenblase, sozusagen.
Dann gibt es Zitate aus der Kunstgeschichte: Hier greift der Künstler Darstellungen von Künstlern wie Pisanello, Brancusi oder
Modigliani auf, überführt diese in die Dreidimensionalität. Er arbeitet diese Köpfe vollplastisch, aber als Hauptansicht eignet sich
am besten das Profil - ein Zitat aus der Früh-Renaissance. Wir erkennen den historischen Ursprung und sehen die künstlerische
Weiterentwicklung.
Er zitiert auch Arbeitsweisen von Künstlern. Hier möchte ich den Nagelkünstler Günther Uecker nennen. Was bei Uecker die
Nägel, sind bei Wiest die Bohrungen. Und doch ist die Arbeitsweise verblüffend ähnlich und bei beiden geht es um Licht- und
Schattenwirkung. Die „Hommage an Uecker“ (WS 312) zeigt im unteren Bereich Betrachter, darüber eine Holztafel, die
verschieden dick ist und unterschiedliche Bohrungen hat. Oben rechts kommt Uecker in Form von Holznägeln, oder besser
Holzdübeln ins Spiel. Apropos Spiel: Bewegen Sie sich vor der Arbeit können Sie selbst mit dem Licht spielen. Seitlich betrachtet
schließt sich das Holz zu einer geschlossenen Platte, direkt davor, öffnet es sich zu einer hohen Transparenz.
Diese Betrachtungsweise sollten Sie auch vor den Portraits wie dem „Adoranten (Bob Dylan)“ oder dem „Selbstportrait des
Künstlers“ anwenden. Sie sehen die Gesichter nicht aus allen Perspektiven und können mit dem Licht spielen.
Dann gibt es historische Portraits wie jenes von Friedrich Hölderlin, dem er eine ganze Gruppe von 8 Arbeiten gewidmet hat. Hier
steht der optische Wiedererkennungswert im Fokus, denn wichtig war Wiest hier auch die Umsetzung historischen Bildmaterials.
Und natürlich gab es nicht von allen Personen gute Darstellungen. Manchmal musste er auf Scherenschnitte oder Skizzen
zurückgreifen. Der Künstler stellt auch die Beziehungen der Personen zueinander dar. Carl Gock und seine Frau wenden sich hier
bereits voneinander ab.
Schauen wir nun in die Köpfe. Was wir im realen Leben nicht können, ist hier machbar. Wie sehen, was den Personen im Kopf
herum spukt. Das „Mädchen in Gedanken“ (Werkstück 376) hat den Kopf gesenkt und versinkt tatsächlich in ihre Gedanken.
Woran sie denkt, wissen wir: an einen jungen Mann. Der befindet sich nämlich tatsächlich in ihrem Kopf.
„Herzog Carl Eugen“ (Werkstück 421), der 12. Herzog von Württemberg wird verbunden mit dem Kopf seiner Ehefrau dargestellt.
Wer hier das Sagen hat, ist klar und wer die Geschichte kennt, weiß, dass Carl Eugen ein fürchterlicher Despot war, der unzählige
Geliebte hatte. Seine Frau ist hier als Anhängsel dargestellt und im echten Leben verließ sie ihn schon nach wenigen Jahren.
Angeblich soll er 77 Söhne als Nachkommen anerkannt haben. (über die Mädchen ist nichts bekannt). Und was finden wir in
seinem Kopf? Einen Hasen. Ich wette, es ist ein männlicher Hase, ein Rammler. Soviel dazu.
Auch Beziehungen sind bei Wiests Paaren dargestellt. „Mutter und Tochter“ (Nr. 338) befinden sich in einem Abnabelungsprozess.
Sie sind am Hinterkopf symbiotisch miteinander verbunden. Die Tochter hat noch keinen eigenen Sockel, ist noch eng an die
Mutter gebunden, blickt aber schon in ihre eigene Richtung. Die Beziehung der beiden ist für uns also lesbar. Wir müssen nur
hinsehen.
Die „Observierte Person“ (Nr. 407) steckt in einem Rahmen, der viele Augen und angedeutete Gesichtsprofile enthält. Sicher keine
angenehme Situation. Vor dem Kopf befindet sich ein roter Button oder Buzzer. Dies könnte ein Notschalter sein, ein Resetbutton
oder einfach eine Möglichkeit, aus der Situation auszusteigen.
Wiest ist bestrebt das Material immer weiter aufzulösen. Beim „Träumenden Paar“ (439) ist das Wesentliche dann gar nicht mehr
vorhanden. Wir sehen nur noch die Konturen zweier Gesichter die sich anblicken und doch besteht eine Beziehung zwischen den
beiden. Im Sockelübergang ist ein männlicher Kopf, der nur durch Transparenz dargestellt ist. Dies könnte bedeuten, dass er nur
in den Gedanken des träumenden Paares besteht. (…)
Schauen Sie sich diese hoch aufwändig gemachten, inhaltsvollen Arbeiten in Ruhe und mit der angemessenen Aufmerksamkeit
an (…) und bitte genießen Sie es, dass wir hier einen Künstler haben, der seine Aussage nicht hinter kryptischen Titeln und
künstlerischem Schweigen verorakelt. Vergessen Sie aber über die vielen Inhalte nicht, sich einfach an diesen wunderschönen
Arbeiten zu erfreuen. Erleben Sie den Werkstoff Holz in einer neuen Dimension. Erfreuen Sie sich an den Volumina, der
Transparenz, dem fehlenden Material und den Farben.